Rockmusical „Hedwig And The Angry Inch“ – im Interview mit Tanja Beutenmüller und Nick Körber
Nick Körber und Tanja Beutenmüller spielen im Rockmusical „Hedwig And The Angry Inch“ die Rollen von HEDWIG und YITZHAK.
Wir Musical-Fans haben die beiden zum Interview gebeten.
Das Rockmusical „Hedwig And The Angry Inch“ erzählt die Geschichte der Rock-and-Roll-Drag-Queen Hedwig, die mit ihrer Band durch Amerika reist. Geboren wurde Hedwig in Ost-Berlin als Hansel – genau am Tag der Errichtung der Berliner Mauer. Ihre geschlechtsangleichende OP ging schief und von ihrer Männlichkeit blieb nur ein „Angry Inch“ zurück. Unterstützt wird Hedwig nicht nur von ihrer Band „The Angry Inch“ sondern auch von ihrem Ehemann Yitzhak.
„Hedwig And The Angry Inch“ gehört sicherlich nicht zu den klassischen „Feel-Good-Musicals“, aber hat definitiv eine Fangemeinde. Was macht für euch persönlich dieses Musical so besonders?
Nick: Was HEDWIG so besonders macht, ist, glaube ich, erstmal die Struktur des Stückes. Es ist kein typisches Musical, wie man es kennt, liebt und erwartet. HEDWIG zeichnet sich dadurch besonders aus, dass es quasi ein Monolog in Konzertatmosphäre ist. Eine Mischung aus Stand-Up, Psychogram, Höllenritt. Ich liebe es!
Tanja: Neben dem Oben genannten, was ich ganz genauso sagen würde, ist die Musik für mich ein großer Faktor. Ich liebe den Stil, die Mischung aus Laut und Leise, trashigem Rock und sanfter Ballade.
Welche Begriffe verbindet ihr spontan mit dem Musical?
Nick: Schmerz, Liebe, Identität, Verlust
Tanja: Einsamkeit, Liebe, Verwirklichung
Das Musical thematisiert die Suche eines Menschen nach dem Ich und seiner anderen Hälfte. Ist man als Mensch denn immer auf der Suche nach einem anderen Teil der eigenen Person?
Nick: Ich glaube, dass es auch Menschen gibt, die mit sich alleine total glücklich sein können und sind. Vielleicht waren eben diese aber auch jene Menschen, die nicht als Kugelwesen die Erde bewohnt haben („Bevor die Liebe entstand“). Aber grundsätzlich denke ich, dass der Großteil aller Menschen nach ihrer anderen Hälfte suchen. Doch: „Wie sieht des Wesen nur aus?“
Tanja: Ich sehe im Leben schon eine lange Suche nach verschiedenen Teilen der eigenen Person, aber ob diese Teile andere Menschen sind und ob diese dann auch noch im romantischen Sinne mit einem verbunden sein müssen, das stelle ich in Frage.
Ein Kernthema des Musicals sind die „Geschlechtsidentitäten“. Wie seht ihr in der aktuellen Zeit das Thema „Differenzierung von Geschlechtern“ und wie gleich und verschieden sind denn Geschlechter?
Nick: Das ist natürlich kein Thema, was sich in einem Interview so kurz und knackig beantworten lässt. Aber ich halte die „Differenzierung der Geschlechter“ für sehr wichtig. Es gibt mehr, als das biologische „Frau“ und „Mann“. Da ist noch so viel dazwischen – Transmenschen, Non Binaries, Inter und und und. Es ist doch total schön, dass die Sichtbarkeit für all diese Vielfalt, für uns, endlich immer mehr wächst. Es gibt doch kein schöneres Gefühl, als sich selbst zu erkennen, wer man ist und wer man sein möchte. Und das sollte man sich von niemandem absprechen lassen, nur weil man bestimmte Chromosomen im Körper hat. HEDWIG ist ein totales Vorreiter-Stück. 1998 haben sich die beiden Autoren schon mit der Thematik „Non binary“ auseinandergesetzt. Denn wie es immer fälschlicherweise in den deutschen Theatern vermarktet wird, ist HEDWIG kein Drag Queen Musical. Wenn ich das lese, werde ich leider immer etwas wütend. In diesem Stück steckt SO VIEL mehr, als dass man sagen kann „hier, viel Spaß mit unserem Drag Musical“. HEDWIG wollte keine Frau sein, man kann hier nicht von einer freiwilligen Entscheidung sprechen, HEDWIG lebt ständig zwischen den Geschlechtern und zwar nicht, weil sie eigentlich in Mann ist und Abends auf der Bühne gerne Perücken trägt, sondern weil sie in eine Rolle gepresst und zu einer Transition überredet wurde. Wie das Stück endet und für welche Seite sie sich entscheidet und OB sie sich überhaupt entscheiden MUSS verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht und hängt bei diesem Stück auch sehr von der jeweiligen Interpretation der Zuschauerinnen ab, was die Show nochmal total besonders macht. Wie gleich und wie verschieden sind die Geschlechter? Gleich sind wir erstmal dadurch, dass wir alle Menschen sind. Geschlecht ist eine Identität. Irgendwann hat jemand gesagt „Gut, wir haben hier eben diese zwei unterschiedlichen Geschlechtsorgane und eine gewisse Chromosomenverteilung, dann gibt es eben jetzt Mann und Frau“ und seitdem werden wir ab dem Zeitpunkt der Geburt nach eben diesen Merkmalen „zugeteilt“. Schlussendlich muss jeder dann für sich entscheiden, ob diese Zuweisung für eine*n richtig ist oder nicht. Für mich war sie nicht richtig. Und trotzdem unterscheiden wir uns doch nicht großartig oder? Egal, als welches Geschlecht ich mich sehe, oder ob ich mich eher im Non binären Spektrum wohl fühle, bin ich es wert respektiert zu werden. Wir sollten einander mehr respektieren. Gender erlebt grade einen extremen Höhepunkt in der Gesellschaft, was verdammt schön ist, immer mehr jüngere Menschen setzen sich damit und vor allem mit sich auseinander, was vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre und wirklich nicht die Norm war. Das ist jetzt hier ein bisschen ausgeartet, aber umso wichtiger sind Shows wie HEDWIG – kommt mit auf diese Reise!
Tanja: Wir erleben eine immer stärkere Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema ‚Geschlechtsidentität‘, was merklich polarisiert. Aber ich glaube es ist einfach wichtig, dass es diese verschiedenen Menschen immer schon gab und es einfach keinen sicheren Rahmen gab, in dem sie sich offenbaren, sich verwirklichen konnten. Man könnte über all das hier sicher ein paar Doktorarbeiten schreiben (haben auch sicher schon einige), und vielmehr als mein eigenes Gefühl kann ich nicht wiedergeben. Biologisch gibt es natürlich Unterschiede, die man kaum abstreiten kann, aber wie unterschiedlich oder gleich all die verschiedenen Geschlechter sind, das ist nicht zu fassen. So unterschiedlich oder gleich, wie alle Menschen es untereinander sind.
Das Musical wurde mit vier Tony Awards ausgezeichnet und eroberte mit Schauspielstar Neil Patrick Harris in der Titelrolle auch den Broadway. Im deutschsprachigen Raum ist das Musical aber (noch) nicht so breit bekannt. Woran liegt das aus eurer Sicht?
Nick: Ich weiß gar nicht, ob man das so sagen kann. Seit Corona wird das Stück sehr häufig im deutschsprachigen Raum gespielt, vor allem an den Stadttheatern. Das hat einen total praktischen Grund gehabt: Die Theater bekamen die Auflage, während der Pandemie Abstände auf der Bühne einzuhalten. Das geht natürlich nicht bei einem Stück mit einer Personage von 20 Leuten, deshalb hat man nach kleineren Shows gesucht und dann war da HEDWIG – zwei Darsteller*innen und eine 4-köpfige Band, perfekt! Dass es vorher immer nur vereinzelt gespielt wurde, liegt vielleicht daran, dass HEDWIG sehr stark von dem abweicht, was das deutsche Publikum unter „Musical“ versteht. HEDWIG ist frech, HEDWIG ist laut, HEDWIG ist dreckig und vor allem tut HEDWIG richtig weh. Und damit muss man sich natürlich auch auseinandersetzen wollen. Es ist eben nicht die hundertste Wiederaufnahme von „My Fair Lady“. Ich würde mehr Wünschen, dass mehr Menschen im deutschsprachigen Raum dieses Stück sehen würden und vor allem unsere Inszenierung.
Tanja: Damit ist denke ich alles gesagt.
Wie würdet ihr eure beiden Rollen HEDWIG und YITZHAK charakterisieren?
Nick: HEDWIG ist sehr verletzt. In ihr schwingt so viel Schmerz und Verlust. Dadurch bekommen ihre Erzählungen eine sehr besondere Komik. Sie ist lustig, sie ist laut, sie ist aber auch ganz leise. HEDWIG ist einsam.
Tanja: YITZHAK lässt sich von HEDWIG klein machen und hält an einer Liebe fest, die es gar nicht zu geben scheint. Stille Wasser sind tief beschreibt ihn sehr gut. Er hat all dieses Talent und diese Leidenschaft in sich, die kleingetreten wurde.
Hedwig And The Angry Inch beschäftigt sich auch mit dem DDR-Alltag und dem Wunsch nach Veränderung. Wie politisch ist das Musical?
Nick u. Tanja: Wir glauben, als politische Parabel kann man HEDWIG nicht sehen. John Cameron Mitchell nimmt in seinen Texten die DDR und ihr System natürlich aufs Korn und schafft dadurch den Konflikt zwischen Hansel und HEDWIG. Es wird dann natürlich aktuell und politisch, wenn es um die Geschlechtsidentitäten geht. Wir denken auch, dass HEDWIG gerade aktueller denn je ist.
Der Fall der Berliner Mauer steht auch für das Einreißen von „gemauerten“ Einstellungen. Welche Einstellungen sollten in der heutigen Zeit noch eingerissen werden?
Nick: Als Mensch, der selbst von der Cis-geschlechtlichen Norm abweicht, begegnet mir fast täglich Diskriminierung jeglicher Form. Warum fühlen sich andere Menschen von meiner Identität bedroht? Live and let live. Tu und sei was dich glücklich macht.
Tanja: Jegliche vermeintliche Norm sollte in Frage gestellt werden. Neben dem, was Nick schon sagte, sollten auch unsere Sehgewohnheiten im Bezug auf Körper (auch auf der Bühne) sich verändern. Sei es Gewicht, Krankheit oder sonstiges, die einen Körper anders aussehen lassen, als wir es gewohnt sind.
Das Musical begeistert auch durch seine Kostümierung. Wie wichtig sind Maske & Kostüm für den Erfolg einer Musicalproduktion?
Nick: Wir haben uns dazu entschieden HEDWIG „back to the roots“ zu bringen. Wenig Glamour, wenig Glitzer. HEDWIG und ihre Band sind abgerockt und touren nur noch durch 3. klassige Clubs, das wollten wir auch in den Kostümen zeigen. Was wichtig ist, ist die Illusion zu schaffen, dass die Zuschauerinnen vergessen, dass die beiden Rollen mit gegengeschlechtlich gelesenen Darstellerinnen besetzt sind. Dafür braucht man gute Perücken und eine gute Maske. Ich denke, wir haben beides und schaffen hier eine sehr gute Illusion. Wir hatten für unsere erste Spielzeit letztes Jahr einen Auftritt auf einem Street Food Markt, bei welchem wir nur als HEDWIG AND THE ANGRY INCH angekündigt wurden, ohne das Wort Musical zu verwenden und tatsächlich haben viele Leute einfach geglaubt, dass Tanja und ich in eben diesen Rollen, wie wir auftreten, verheiratet sind und haben nichts infrage gestellt.
Tanja: Maske und Kostüm sind natürlich ein wichtiger Faktor, um die Immersion für das Publikum möglich zu machen, wie Nick sagt, liegt hier das besondere Augenmerk darauf die Personen Tanja und Nick in ihrer Gänze verschwinden zu lassen. Klar darf eine Show auch irgendwo schön anzusehen sein und ich denke, das sind wir auch.
Musicals bieten ja eine große Bandbreite an Themen und musikalischen Strömungen. Wie definiert ihr das Genre „Musical“?
Nick: Musical erzählt eine Geschichte mit der Hilfe von drei Ausdrucksarten: Gesang, Schauspiel, Tanz. Viele Stücke haben da natürlich andere Schwerpunkte. HEDWIG ist gewiss keine Tanz-Show. Es ist schwierig das Genre klar zu definieren. Es ist eine neue, moderne Form von Musiktheater, die in jede musikalische Richtung gehen kann, das macht es so spannend.
Tanja: Würde ich genauso sagen.
WIR MUSICAL-FANS sagen „Danke für das Gespräch“.